Didaktik heisst auch immer einen Kompromiss mit den Gegebenheiten machen.
„Aus verschiedenen Gründen ist in diesem Semester ein extremer Engpass in der Lehrversorgung des Fachbereichs aufgetreten“, so zititiert die Frankfurter Rundschau den Studiendekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaften. Die Aufforderung an die Lehrenden ist eindeutig: Öffnet die Tore und nehmt mehr Studierende in die Seminare auf.
Diese Ansage sowie der Umstand, dass aktuell zwei Prüfungsordnungen existieren, haben mich die didaktischen Karten für mein Seminar “Elektronisches Lernen im Internet” neu mischen lassen.
Geht es auch ohne Hausarbeit?
Die bisherigen Arrangements habe ich hier und hier skizziert. Die Studierenden haben bisher als Leistung eine Hausarbeit oder Referat mitsamt schriftlicher Ausarbeitung eingereicht. Die Abwicklung der Abgabe läuft seit letzten Semester über die Lernplattform Olat und erspart mir so Papierberge und das Zusammensuchen der PDFs in meiner Mailbox.
Ich persönlich war nie ganz glücklich mit diesen klassischen Leistungsformaten. Meine Erfahrung zeigt, dass diese Arbeiten oft erst mit 3-5 Monaten Abstand zu den Inhalten unter Hochdruck in den letzten Tagen der Abgabefrist entstehen. Viel von dem Momentum, welches in den Seminaren in den Diskussionen entsteht, verpufft ungenutzt. Zudem sind klassischen Formate auch in der Regel Einzelkämpfertum und nur selten Kollaborationen.
Diese Gemengelange führt mich nun zu dem Mut, einen ganz anderen Ansatz auszuprobieren. Für die aktive Teilnahme (AT) bleibt es beim Etablierten: Keine Anwesenheitsliste, Medienprodukt! Die Studierenden werden gemeinsam in WordPress eingeführt und gestalten über das Semester einen eigenen, thematisch völlig freien Blog mit min. 5 Beiträgen und 5 Kommentaren auf den Blog der Kommilitonen.
Die zentrale Änderungen gibt es bei den Leistungsnachweisen Hausarbeit & Ausarbeitung. Diese streiche ich und biete stattdessen an, einen gemeinsamen Seminarblog auf der internen Lernplattform zu führen. Die Anforderung an die Teilnehmer ist, dass jeder im Verlauf des Semesters fünf Beiträge im gemeinsamen, thematischen Blog auf Olat verfasst.
Als ich diese Vision in der ersten Sitzung vorgestellt habe, gab es großes Interesse seitens der Anwesenden. Allerdings gab es direkt einige irritierte Nachfragen: “Wie lange sollen die einzelnen Beiträge sein, eine Seite?” Die Fixiertheit auf Formate und die Unsicherheit über die Bewertungsmaßstäbe waren sofort greifbar. Diese Unsicherheit konnte ich nicht gänzlich nehmen, dafür ausführen, warum sie überhaupt exisitiert.
Warum ein Seminarblog?
Das Nutzen eines internen Reflexionsblogs eröffnet mindestens eine große Chance: Die Abkehr von der reinen Textfixiertheit! Die Modulbeschreibung (S.19) “Neue Medien” ist eindeutig: Es geht nicht nur um das Reflektieren von Medien, sondern auch um das Gestalten. Daher ermuntere ich alle Studierende, ihre Beiträge nicht nur in Textform zu gestalten: Mindmaps, Infografiken, Screencasts, Videos, Skypeinterviews, Podcats usw. sind alles Formate, die Teil des Seminarblogs werden können und eine Alternative in der Wissensdarstellung sind. Und dann fällt es natürlich schwer, die verschiedenen Formate quantitativ miteinander zu vergleichen.
Ich verstehe und achte natürlich das Orientierungsbedürfnis der Studierenden, hoffe aber auf den Punkt gebracht: Das Wegfallen der quantitaiven Mindestanforderungen öffnet Raum, Mut und eigene Begeisterung zum Experimentieren mit neuen Medienformaten.
Wichtig war mir dabei zu betonen, dass wir dabei vielmehr den Prozess betrachten und weniger auf einzelnen Ergebnisse fixiert sind.
Nach einer lebhaften Diskussion waren die Teilnehmer soweit bereit für das Experiment, bis einer Teilnehmerin der große Clou auffiel: “Wenn alle Leistungen nun im Seminarblog stattfinden, dann gibt es ja keine Referate mehr. Worüber schreiben wir denn dann, wer gestaltet die Sitzungen?” – Sehr gut mitgedacht!
Das war für mich die perfekte Überleitung, um auf die Teilnahmevorausetzungen einzugehen. Wenig überraschend hatte diese kaum einer gelesen, doch eine Dame wusste es: Ein Laptop und Selbstlernmotivation.
Meine Hoffnung ist: Wenn wir uns verabschieden von der Vorstellung, einen umfassend konzipierten 90 Minuten Input serviert bekommen zu müssen und stattdessen eher an Impulse der freiwilligen Referenten denken und das Referieren als angstfreie Übung von Schlüsselkompetenzen begreifen, dann könnte es Teilnehmer geben, die ohne Zwang ein Thema für die Gruppe einführen und gemeinsam im Plenum innerhalb des Seminars entwickeln. Selbstlernmotivation ist dabei der Schlüssel: Was interessiert Euch, welche Themen wollen wir im Seminar besprechen, welche Themen tangieren Euch beruflich oder privat?
Die meisten Anwesenden waren sicher, dass dieses Modell funktionieren kann und wird. Angeregt dabei wurde, die Themenvergabe nicht direkt für das gesamte Semester zu machen, sondern fortlaufend mit circa 3-4 Wochen Vorlauf. So sei es, das probieren wir genau so. Das heisst, in der kommenden Woche will ich mit dem Seminar erarbeiten, welche Darstellungsformen möglich sind und mit welchen Tools diese umgesetzt werden können, um dann erst in der folgenden Woche das erste Mal ein paar Themen zu vergeben.
Was hat das mit Moocs & Barcamps zu tun?
Neben Tools zur Wissensdarstellung möchte ich in der kommende Woche auch über zwei Prinzipien reden, die ich nicht nur aus SEO-Gründen in die Artikelüberschrift gepackt habe: Moocs & Barcamps.
Denn auch wenn das Seminar sicherlich weit von einem Mooc und einem Barcamp entfernt ist, sehe ich durchaus erste Ansätze, die ich zum Abschluß gerne kurz skizziere.
Mooc: Das Seminar ist weder “Massive” (90 Teilnehmer) noch “Open”. Zudem basiert es auf Präsenzveranstaltungen und wird “nur” online weitergeführt. Dennoch sehe ich Ansätze, zu einem dass die Teilnehmenden ihre Interessen und Themen und Darstellungsformate selbst picken und nicht über alles schreiben müssen. Zum anderen die Bezugnahme der Teilnehmer untereinander, das gegenseitige Lesen, Kommentieren und Inspirieren.
Barcamp: Klar, das Seminar ist nicht ganz freiwillig und die einzelnen Sessions laufen sequentiell und nicht parallel. Ich hoffe, dass sich in den Seminarsitzung eine Offenheit in der Gestaltung etabliert wie sie auf Barcamps existiert. Also konkret die Entbindung von der Last einen durchgeplanten Vortrag präsentieren zu müssen und die Freiheit, auch einfach eine Frage zur Recherche und Diskussion stellen zu können. Ebenso sehe die Eigenverantwortung der Teilnehmer beim Dokumentieren (z.B. auf Etherpads) als Parallele zu Barcamps.
Ich bin sehr gespannt, wie sich dieses Seminar entwickelt und ob aus Teilnehmern auch Teilgeber werden können.
Wer nutzt ähnliche Settings, welche Tipps gibt es? Freue mich über Anregungen und bedanke mich für das Lesen!